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Digitalisierungsschub Corona oder doch nicht

Dieses Jahr steht im Zeichen von Corona. Experten sind sich in einem ziemlich sicher: Durch Corona gab es einen überfälligen Digitalisierungsschub.
Michael Brandtner | 14.12.2020
Digitalisierungsschub Corona oder doch nicht © Pixabay
 

Das Jahr 2020 stand und steht sicher im Zeichen von Corona. Während es in vielen Bereichen unseres Lebens, egal ob in der Wirtschaft oder auch privat, massive und teils sehr schmerzhafte Einschnitte gab und gibt, so sind sich die meisten Experten in einem ziemlich sicher: Durch Corona gab es einen echten und überfälligen Digitalisierungsschub in Europa.

 

Der (einsetzende) operative Digitalisierungsschub

So hieß es erst kürzlich in einer Werbefachzeitschrift: „Corona zwingt viele Branchen und Unternehmen in die schnelle Transformation.“ Es scheint so, dass Europa – bedingt durch das Virus – sich auf die digitale Überholspur begibt, um auch im globalen Wettbewerb mit China und den USA zu bestehen. Nur wenn man genauer hinsieht, zeigt sich schnell, dass dieser Digitalisierungsschub vor allem in drei Bereichen gesehen wird, nämlich bei Videokonferenzen, beim Homeoffice und bei Online-Shops, die meist „nur“ im Sinne von Multi- oder Omni-Channel bestehende analoge Vertriebswege ergänzen sollten.  

Dazu vermeldete etwa auch die Prüfungs- und Beratungsorganisation EY basierend auf einer Studie Ende Juni dieses Jahres: „Die letzten drei Monate haben in vielen Unternehmen für einen Digitalisierungsschub gesorgt. Homeoffice, virtuelle Zusammenarbeit, digitaler Vertrieb – alles Herausforderungen, auf die Unternehmen schnell reagieren mussten.“  In Summe klingt das auf den ersten Blick natürlich nach einer echten Digitalisierungswelle. Nur genau diese Art der Digitalisierung könnte – vor allem im globalen, digitalen Wettbewerb – viel zu wenig sein.

 

Der (fehlende) strategische Digitalisierungsschub

Verstehen Sie mich nicht falsch! Es ist sicher richtig und wichtig, dass man heute operative digitale Lücken schließt. Aber das Internet ist und kann viel. Heißt: Das Internet bietet die Möglichkeit komplett neue digitale Geschäftsmodelle und Marken  zu kreieren und zu etablieren. Um besser zu verstehen, worum es geht, sollten wir einen zweifachen Blick in die Top 100 der wertvollsten globalen Marken laut Interbrand werfen.

(1) Der Blick auf die Top 10: Im Jahr 2001 veröffentlichte Interbrand das erste Mal dieses Ranking im amerikanischen Wirtschaftsmagazin BusinessWeek. Damals waren die Top 10 Coca-Cola, Microsoft, IBM, GE, Nokia, Intel, Disney, Ford, McDonald’s und AT&T. Im Jahr 2020 sind die Top 10 Apple, Amazon, Microsoft, Google, Samsung, Coca-Cola, Toyota, Mercedes, McDonald’s und Disney. So sind alleine in den Top 5 vier neue Marken, deren Erfolg ganz stark mit dem Internet und der Digitalisierung verknüpft ist. Das ist die eine Seite. Auf der anderen Seite sind frühere Markenschwergewichte wie IBM, GE, Nokia, Intel, Ford oder AT&T aus den Top 10 verschwunden und werden dort wahrscheinlich auch nie mehr auftauchen.

(2) Der Blick auf die „Start-ups“: Noch interessanter ist aber wahrscheinlich der Blick auf die Internet-Start-up-Marken in diesen Top 100: Amazon (Rang 2), Google (Rang 4), Facebook (Rang 13), Instagram (Platz 19), YouTube (Rang 30), Netflix (Platz 41), Ebay (Platz 46), Salesforce (Platz 58), PayPal (Rang 60), Spotify (Platz 70), LinkedIn (Platz 90), Uber (Platz 96) und Zoom (Platz 100). Das Interessante oder auch aus europäischer Sicht fast Erschreckende ist dabei, dass dies außer Spotify lauter amerikanische Marken sind.

 

Zu defensiv, zu national

So mögen wir es aus europäischer Expertensicht als Fortschritt sehen, dass immer mehr Unternehmen Zooms oder Microsoft Teams in ihrer Kommunikation operativ nutzen. Strategisch gesehen sind aber Zooms und Microsoft die wahren Profiteure der Entwicklung. Damit kommen wir noch zu einem weiteren wesentlichen Aspekt.

Viele Digitalisierungsansätze, speziell auch im Bereich Onlineshops, die in der aktuellen Krise entstanden sind, sind ist viel zu defensiv und viel zu national ausgelegt. Egal ob man sich die Online-Shops auch von Marken wie dm, H&M, Ikea, Media-Markt oder Saturn ansieht, es geht anscheinend immer vorrangig darum, dass man den Kunden ein 360 Grad Einkaufserlebnis vermittelt. Es geht also vorrangig darum, dass man das eigene Filialnetz optimal ergänzt.

Nur damit überlässt man zwei wesentliche Erfolgsfaktoren des Internets dem heutigen und vor allem auch zukünftigen Wettbewerb, nämlich den Erfolgsfaktor „Expansionsgeschwindigkeit“ und den damit verbundenen Erfolgsfaktor „globale Marke“. Frage dazu: Wo wäre Jeff Bezos mit Amazon heute, wenn er in den USA in den 1990er Jahren auf Multi- oder Omni-Channel gesetzt hätte? Antwort: Mit etwas Glück die führende Buchhandlungskette der USA. Aus dieser Warte betrachtet werden es viele – auch große Marken – bereuen, dass man das Internet nur als nette digitale Ergänzung gesehen hat. So sind auch alle führenden Internetmarken rein für das Internet geschaffen worden und keine Ableger von analogen Marken. Das gilt auch im Modebereich für Zalando, Navabi oder MyTheresa. Es gilt aber auch für Casper und Bett1.


Fazit

So gesehen sollte man diese Krise auch als Weckruf für die eigene Wirtschaft und vor allem auch für die Wirtschaftspolitik der EU und ihrer Mitgliedsstaaten sehen. Denn Videokonferenzen, Home-Office und ein paar ergänzende Online-Shops sind zu wenig, um von einem echten Digitalisierungsschub zu sprechen.

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Michael Brandtner ist Berater für strategische Positionierung, Partner of Ries Global und Autor des Buches „Markenpositionierung im 21. Jahrhundert“.