Responsible Media: Skalpell statt Schrotflinte
Im letzten halben Jahr hat sich enorm viel entwickelt, wenn es um Responsible Media geht. Die GroupM hat eine umfassende Beschreibung der Verantwortung veröffentlicht, die Marketing und Werbung zu übernehmen haben. Umweltschutz ist nur eines von fünf Themen. Die anderen heißen Unterstützung des Qualitätsjournalismus, Stop funding hate, Diversity und Inklusion sowie der sorgsame Umgang mit Daten und Künstlicher Intelligenz.
Im Sommer zog die Debatte um die Energieverschwendung von Digital out of Home auch breitere Gesellschaftsschichten in den Bann. Große publikumswirksame Medien berichteten und diese Resonanz aus der Gesellschaft trieb die Regulierung dazu, in der Energieeinsparverordnung ein Nachtwerbeverbot für DOOH auszusprechen.
Wir sind mitten in einer intensiven Debatte angelangt, die nicht mehr nur von Corporate Social Responsibility bei großen Werbungtreibenden getrieben wird, sondern auch vom Endkunden. Und ganz abgesehen davon, ist das Einsparen von Energie und CO2 in diesen Tagen schlicht das Richtige, was man in allen Stufen der Wertschöpfungskette tun sollte.
Frau Lehmann, Sie haben letztes Jahr eine Kampagne von Lichtblick komplett durchgemessen in Sachen Energie und CO2. Zu welchem Schluss sind Sie gekommen?
Ann-Christin Lehmann: Für uns als größter Ökostromanbieter in Deutschland liegt es ja nahe, sich mit dem Thema zu beschäftigen. Wir wollen den Menschen klimaneutrales Leben ermöglichen.
Wir haben Ende 2021 eine Markenkampagne gemacht und wollten diese auch klimaneutral ausspielen. Dabei stellten wir fest, dass wir gar nicht wissen, welche Klimaeffekte die Kampagne hat. Wir sind mit dieser Frage an unser Sustainability-Team herangetreten, und haben gemeinsam überlegt, wie wir da rangehen können. Wir haben uns dann Experten gesucht, die uns beraten haben. Wir wollten es nämlich genau wissen. Eine reine Durchschnittskalkulation auf Basis des eingesetzten Mediageldes pro Kanal war uns nicht transparent genug.
Wir haben versucht, so genau wie möglich zu sein. Wir haben Themen wie die Asset-Produktion angeschaut, die Logistik drum herum, wie zum Beispiel das Catering. Dabei haben wir festgestellt, dass es viel komplexer ist, als wir anfangs gedacht haben. Da gibt es ein paar Black Boxes. Wir kennen zum Beispiel den CO2-Footprint bestimmter Plattformen und deren Serverstrukturen nicht. An diesen Stellen haben wir mit Literaturdaten gearbeitet.
Was waren die Ergebnisse?
Ann-Christin Lehmann: Wir hatten einen Gesamtfußabdruck von 20 Tonnen in der Kampagne. Das entspricht in etwa dem gesamten CO2-Fußabdruck, den zwei Menschen pro Jahr haben. Wir haben festgestellt, dass die Werbeträger extrem unterschiedlich sind. DOOH war in Relation zu dem Mediaspend, den wir ausgegeben haben, relativ energieintensiv. Das liegt natürlich an der Energieintensität der Ausspielung. Hier spielt die Art der Energiegewinnung, mit der das Diosplay betrieben wird, die entscheidende Rolle.
Die Außenwerbung hatte den größten Impact bei der Lichtblick-Kampagne von 2021 – Bild: Lichtblick
Man muss dazu sagen, dass wir im Mediaplan kein TV hatten. Da sähe die Kalkulation möglicherweise anders aus. Bei digitalen Kanälen ist vor allem die Datenübertragung ein großer Faktor. Ein energiearmes Standbild hat weniger Auswirkung als ein HD-Video. Wenn die Nutzer eine Werbung über das WLan zuhause empfangen ist der Impact geringer, als wenn sie es übers Mobilfunknetz erhalten.
Fließen solche Daten auch in den Nachhaltigkeitsbricht ein?
Ann-Christin Lehmann: Ja, auf jeden Fall. Und das Gute an dem Konzept ist, dass es zwar kurzfristig um Kompensation geht, langfristig der Blick aber klar auf CO2-Vermeidung liegt.
Ann-Christin Lehmann, CMO von Lichtblick rät Marketers, sich genau zu informieren, und vor allem Daten zu hinterfragen. Dann finden sich die Optimierungspotentiale von alleine. Bild: Lichtblick
Welchen Einfluss hatte die Asset-Produktion?
Ann-Christin Lehmann: Es hängt sicher davon ab, wie man produziert und was. Bei uns hatte die Produktion keinen besonders großen Impact. Der kam von der Ausspielung und Datenübertragung. Über die gesamte Kampagne war das in etwa 20 Prozent. Das ist ein Optimierungshebel, aber in den anderen Bereichen ist mehr Optimierung möglich.
War Video enthalten?
Ann-Christin Lehmann: Ja. Das haben wir über Social Media ausgespielt.
Haben Sie sich TV schon einmal prophylaktisch angesehen, auch wenn es in dieser Kampagne keine Rolle spielte?
Ann-Christin Lehmann: Ja haben wir. Wir haben auch einen eigenen KPI entwickelt, der CO2-Ausstoß pro Impression, um Vergleichbarkeit zu erzeugen. Eine DOOH-Stele hat ungefähr das 600fache an CO2-Ausstoß im Vergleich zur Smartphone-Impression. Eine Ausspielung auf DOOH muss also 600 Menschen erreichen, um vom CO2-Ausstoß vergleichbar zu sein. Im Vergleich TV zu DOOH ist der Faktor nur noch eins zu sechs. Das ist also eine spannende Kalkulation.
Aber ist nicht die eigentlich wichtige Frage, welchen CO2-Abdruck der einzelne View hat? Dann wären die Medien einfacher zu vergleichen.
Ann-Christin Lehmann: Das stimmt auf jeden Fall. Wir haben das in dieser Kampagne versucht mit dem Uplift bei bestimmten Markenattributen zu gewichten. Das muss das Ziel sein, aber da stehen wir noch am Anfang. Wir haben jetzt erstmal eine solide Basis geschaffen.
Herr Hilgers, wie genau können wir heute messen?
Philipp von Hilgers: Wir sind technologisch ja ganz nah beim User. Wir wissen, auf welchem Endgerät ein Werbemittel ausgespielt und ob es gesehen wird. Hier kommt dann unserer Partner Scope 3 ins Spiel, mit denen wir intensiv zusammenarbeiten. Die haben die Methodik und die Daten, um das dann zu bewerten. So können wir die CO2-Emission pro Impression berechnen.
Das jeweilige Endgerät des Users ist ein wichtiger Teil der Betrachtung.
Philipp von Hilgers, Managing Director bei Meetrics/DoubleVerify erkennt viel Bewegung im Markt auf beiden Seiten und verlangt einen Paradigmenwechsel hin zu mehr qualitativer Betrachtung von Werbung Bild: Meetrics/DoubleVerify
Dafür bräuchten Sie die Daten der Publisher, mit welcher Technologie sie arbeiten.
Philipp von Hilgers: Wir sind schon von unserem Kerngeschäft her, sehr nahe an der Ausspielungstechnologie. Wir sind mit unseren Systemen vorgeschaltet und können ja auch entscheiden, ob ein Ausspielungsumfeld markensicher ist oder nicht.
Was die Daten für die Energieversorgung angeht, so verlangt das Greenhouse Gas Protocol von den Publishern, dass sie detaillierte Erhebungen machen. Die Daten muss man sich nicht holen, die Publisher liefern sie selbst.
Aber ich möchte betonen, dass wir das Ziel nicht aus den Augen verlieren. Das Ziel heißt Werbewirkung. Und bei manchen Kampagnen reicht eine Impression, andere brauchen fünf. Da sind wir noch nicht, aber es bewegt sich einiges. Ich war letzte Woche beim OWM und auch dort wird das Thema intensiv diskutiert. Nächstes Woche setzt sich der BVDW zu diesem Thema zusammen.
Aber wie genau geben Publisher Auskunft über ihr technisches Setup?
Philipp von Hilgers: Keiner betreibt mehr seine eigenen Server im Keller. Die nutzen alle die Cloud-Infrastrukturen der großen Plattformen und die veröffentlichen zumindest einen Teil ihrer Daten. Ich wünschte, die Berichte wären an der einen oder anderen Stelle noch exakter. Und vielleicht braucht man dafür auch externe Auditierung. Da kommen übrigens auch erste Stimmen von der Seite der Werbungtreibenden, die sich da nicht die Finger verbrennen wollen. Die fordern mehr Transparenz.
Frau Lehmann, wo sind noch gravierende Blindspots aus Ihrer Sicht?
Ann-Christin Lehmann: Wir wissen noch zu wenig darüber, welche Server-Prozesse ablaufen, zum Beispiel im Programmatic Advertising. Und da geht es bis hin zu Themen wie: Wie werden diese Server gekühlt? Da gibt es schon in der Tiefe noch eine Menge Blindspots. Alles, was bei uns selbst passiert, können wir gut tracken. Das ist eine Frage des Ressourceneinsatzes.
Wie schätzen Sie die Bedeutung des administrativen Kontexts ein, von der Kaffeemaschine in der Marketingabteilung bis zum Dienstwagen des Geschäftsführers?
Ann-Christin Lehmann: Alles, was bei uns passiert messen wir sehr genau und kompensieren das. Unser Ziel ist es bis 2035 Scope 3 klimaneutral zu sein. Das umfasst also die gesamte unternehmerische Aktivität, auch unsere Produkte. Wir bieten zwar klimaneutrale Energie an, aber wenn wir die ganze Technologie anschauen, die Netze, durch die die Energie fließt, dann gibt es auch da noch Baustellen.
Unser Ziel ist natürlich Reduktion statt Kompensation.
Vielleicht sollten wir kurz die Begriffe Scope 1 bis 3 erklären.
Ann-Christin Lehmann: Je höher die Zahl, umso kompletter schaut man auf die Wertschöpfungskette. Scope 1 sind die Effekte, die im eigenen Betrieb entstehen, zum Beispiel für Büros. Scope 2 nimmt Vorprodukte hinzu, also alles, was das Unternehmen einkauft. Hier geht es vor allem um Energie, aber auch die Zulieferer in der Produktion. Und Scope 3 betrachtet alle Effekte des Handelns als Unternehmen.
Welche Möglichkeiten gibt es, den eigenen CO2-Footprint zu messen? Welche Dienstleister können Sie empfehlen?
Ann-Christin Lehmann: Wir arbeiten mit Cozero und Corsus zusammen. Das sind sogenannte Carbon Action Platforms. In diese Tools gibt man seine Daten ein und die rechnen dann aus, wie der CO2-Fußabdruck ist.
Philipp von Hilgers: Mit Scope3 haben wir ein Startup von einem sehr prominenten Unternehmer. Brian O´Kelly hat AppNexus aufgebaut und daraus ging Xandr hervor. Der kennt sich in den technischen Prozessen bestens aus. Nicht umsonst trägt er den Spitznamen „The godfather of programmatic“.
Aber auch in Berlin gibt es viele tolle Startups wie zum Beispiel Climatiq, planA. Ich bekomme nicht alles mit, aber gefühlt werden es immer mehr. Climate Partner aus München natürlich, die arbeiten mit der OMG zusammen.
Wo kann man CO2 vermeiden, ohne Werbewirkung zu verlieren?
Ann-Christin Lehmann: Im rein digitalen Bereich, also Social Media oder Display kommen wir gut durch. Da stellen wir uns die Frage, ob es ein 30-Sekünder als Videospot sein muss, wenn ich doch genau weiß, dass die Konsumzeit des Werbemittels eine andere ist. Das ist relativ einfach.
Der Trade-off wird komplizierter bei One-to-Many-Kanälen. Das ist eine Nuss, die wir noch nicht geknackt haben. Da geht es ja oft nicht um Performance-Ziele wie Klicks sondern um Awareness. Aus der Sicht unserer Kampagnenanalyse war es leider so, dass der Impact der Werbemittel in Sachen CO2 gerade dort am höchsten war, wo die Werbewirkung auch am stärksten ist. Wenn wir nur auf CO2 optimieren ergibt sich ein riesengroßer Tradeoff im Hinblick auf Awareness-Ziele.
Ich habe heute noch keine Antwort darauf, was wir da machen. Aber wir sind dran.
Ist die Intransparenz von Programmatic Advertising ein Teil des Problems?
Philipp von Hilgers: Das ist tatsächlich ein Dilemma, das wir hier haben, den gleichzeitig ist genau Programmatic Advertising auch ein wichtiger Teil der Lösung. Das Problem ist nicht nur, dass die Advertiser kaum mehr alles kontrollieren. Brian O´Kelly hat zurecht darauf hingewiesen, dass das System so konstruiert ist, dass für eine einzige Impression Dutzende von Servern heiß laufen. Das ist ja das gleiche Problem, das die Blockchain auch hat und da ist es bereits in aller Munde.
Es kann aber eben auch Teil der Lösung sein, weil man über diesen Weg die Qualität in der Ausspielung steigern kann. Das haben wir längst bei anderen Qualitätsthemen wie Brand Safety im Einsatz und wäre auch für einen Qualitätsindikator wie Energieeffizienz oder CO2-Optimierung anwendbar. Der Vorteil von Programmatic an dieser Stelle ist natürlich, dass es viel schneller im Markt Wirkung erzeugen kann. Für die Advertiser ändert sich nicht viel, sie müssen nur den neuen KPI definieren und anwenden.
Ich gebe aber Frau Lehmann recht, dass wir im Bereich der Werbewirkungsforschung bei Markenwerten noch nicht so weit sind, dass wir das in der gleichen Agilität einsetzen können. In der idealen Welt wäre das so. Hier stehen wir als Dienstleister natürlich an einer Grenze: Wir können die Impression ausweisen. Wie sich die Impression in Werbewirkung übersetzt, kann nur der Advertiser oder die Agentur modellieren.
Muss die Buy-Side hier wieder neue lernen, wie man Werbewirkung misst und testet? Vieles, gerade im digitale Werbemarkt ist ja inkrementelle Optimierung. Wenn ich fünf Banner gegeneinander teste und das beste wähle, weiß ich ja immer noch nicht, ob ein CTV-Spot nicht viel mehr bewirkt hätte.
Philipp von Hilgers: Das würde ich absolut unterstreichen. Und das sehe ich aus Apell an alle Marketing-Manager. Diesen Freiraum muss man sich erboxen, damit man handwerklich mehr Sicherheit bekommt. Es wird viel zu oft mit Quantität auf das Thema geschaut. Und gerade jetzt, wenn die Ressourcen knapper werden, müssen wir mehr von Qualität sprechen. Das betrifft übrigens auch ganz andere Bereiche, wie zum Beispiel das Thema IT. Auch hier werden Datenhaltung und -transport in Zukunft teurer und es entsteht Druck, das zu optimieren.
Natürlich muss man seine Kampagnenziele erfüllen. Aber das muss präziser passieren und nicht mit der Schrotflinte.
Frau Lehmann, was würden Sie den Kollegen, die das lesen gerne mitgeben?
Ann-Christin Lehmann: Es geht jetzt um Verstehen und Hinterfragen. Wenn man zunehmend Transparenz erkennt man von selbst, wo Optimierung möglich ist.
Wird durch dieses neue Paradigma die Werbung teurer?
Philipp von Hilgers: Monetär wird sie auf jeden Fall teurer, weil alles teurer wird. Die Energie, die Medien, die Dienstleistung.
Ann-Christin Lehmann: Aus Sicht von CO2 und Energieeffizienz muss es nicht teurer werden. Man kann durch die Optimierung ja auch Geld sparen, zum Beispiel beim Datentransport. Außerdem wissen wir ja, dass der gesetzlich regulierte CO2-Preis höher werden wird.
Im Grundsatz gilt: Wer minimiert muss weniger kompensieren.
Der Beitrag ist eine leicht gekürzte Fassung des Roundtables "Die CO2-Optimierung des Mediaplans. Alles nur Greenwashing?" im Rahmen der Digitalkonferenz Marketing Automation Trends 2023. Der Mitschnitt des Roundtables ist ab Dezember verfügbar.