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Kennzahlen lügen – fast immer

Die meisten Kennzahlen, mit denen Datenjunkies hantieren, sind hauptsächlich falsch – und werden somit zu falschen Entscheidungen führen.
Anne M. Schüller | 19.01.2023
Kennzahlen lügen – fast immer © freepik / snowing
 

Vor ein paar Tagen: Ich möchte mit jemandem aus der Zentrale eines größeren Unternehmens sprechen, hab aber seine Durchwahl nicht zur Hand. Also ab auf die Website. Mit Anrufern will man wohl nichts zu tun haben, denn, wie so oft, eine Telefonnummer findet nur der, der das Impressum durchwühlt. Es begrüßt mich ein Bot mit seinem Auswahlprogramm. Mein nicht einmal sehr besonderer Wunsch ist, auch wie so oft, nicht dabei. Ich drücke notgedrungen die eins – und lande im Callcenter. Der Mann dort will mir was verkaufen, weiterverbinden kann er mich nicht.

„Es müsste aber doch möglich sein ….“, beginne ich zaghaft. Er schmeißt mich aus der Leitung. Nun tritt der Zufriedenheitsbefragungsbot in Aktion. Nur vier schnelle Fragen, säuselt er, bitte wählen Sie zwischen eins, sehr gut, und sechs, ungenügend. Ich wähle vier Mal die sechs. Er bedankt sich überschwänglich und versichert mir herzlich, wie sehr ich dem Unternehmen mit meinen Antworten geholfen habe. Geholfen? Ich gab in allem die schlechteste Note, doch niemand will wissen, warum.

Zahlensammeln als Selbstzweck – ohne jeden Erkenntnisgewinn

So ist es bei Befragungen oft: Das Unternehmen will keine Gründe, sondern nur Zahlen. Da wird eine riesige Maschinerie aufgesetzt und in Gang gehalten, die enorme Kosten verursacht, doch keinerlei Wertschöpfung bringt. Keine Painpoints werden gesucht und gefunden, die sich beheben ließen, keine Stärken herausgefiltert, die man stärken könnte, niete, nada, nichts. Nur Zahlen werden gesammelt, die in Statistiken eingepflegt werden, um sie an jemandem zu reporten, der die nicht einmal liest. Das sind doch alles kluge Leute in den Führungsetagen, sollte man meinen, wieso machen die das?

„Wegen der Vergleichbarkeit“, ruft man mir zu. Vergleichbarkeit? Was soll das bringen? Man weiß zwar dann, dass man besser oder schlechter wurde, doch man weiß nicht - und nur das ist entscheidend - warum. Was kann das nicht alles bedeuten, wenn der Befragte eine eins gibt? Oder im schlimmsten Fall überall eine sechs? Man hat zwar einen Wert, aber keinen blassen Schimmer, was unbedingt besser gemacht werden müsste. Auf die richtigen Gründe zu kommen ist dann wie Stochern im Nebel. So werden Optimierungsprogramme zum reinen Ratespiel. Das ist doch absurd!

Kennzahlengier? Durch Wiegen allein wird kein Schwein fett

Eine Menge Kennzahlen mögen zwar interessant sein, doch Erkenntnisse bringen sie nicht. Vieles ist Rechtfertigungs- und Selbstbeschäftigungsbürokratie – also eine Riesenverschwendung an Geld, Zeit und Ressourcen, um die Wichtigkeit der eigenen Abteilung zu untermauern. Natürlich ist Messbarkeit unerlässlich, um die Spreu vom Weizen zu trennen. Daten sind also genauso wie KPI’s überaus wichtig. Nur darf man sie nicht für den Stein der Weisen halten und ihnen blind vertrauen.

Eine Generalinventur wäre oft überfällig. Was muss unbedingt bleiben? Und was kann alles weg? Weniger Kennzahlenhype und halb so viele Reportings bringen doppelt so viel Zeit für die Kunden. Für Kontrollfreaks ist es allerdings praktisch, sich hinter Zahlen zu verschanzen. Solange es um die Vermessung des Menschen geht, braucht man sich nicht mit Herz und Seele befassen. Doch Menschen sind keine Nullen und Einsen. Sie sind auch keine Datenpakete. Und ganz gewiss sind sie kein bürokratischer Vorgang, der sich fix vordefinierten Steuerungsmechanismen unterwirft.

Wer auf Zahlen fixiert ist, denkt nur noch in Zahlenkategorien

Das Wichtigste im Kundenbeziehungsmanagement sind nicht Daten, sondern es ist der Mensch. Insofern muss sich Zahlenverständnis mit sozialer Intelligenz und gesundem Menschenverstand paaren. Doch die meisten Manager kennen ihre Kunden nur noch von Charts und auf dem Papier. Sie haben sich ihnen völlig entfremdet und Messpunkte aus ihnen gemacht. Endlos brüten sie über Daten und nennen das Customer Insights. Wie es den Leuten tatsächlich im wahren Leben ergeht, das haben sie nie erforscht.

Den Datensalat, der auf ihren Dashboards erscheint, den halten sie für die ganze Wahrheit. Doch das Kaufverhalten der Konsumenten ist bei weitem nicht so gläsern, wie uns die Software-Industrie vorgaukeln will. Smarte Konsumenten ducken sich mithilfe passender Tools ganz gezielt weg. So bleibt das meiste, das die Menschen denken, sagen, kaufen und tun, den Cookies und Crawlern verborgen.

Wie das aber bei Analysetools immer so ist: Von findigen Anbietern sind sie schnell programmiert, wenn sie ein Geschäftsfeld darin wittern. Und Gierigen kann man das Blaue vom Himmel erzählen. Indes darf die Daten-Goldgräberstimmung nicht dazu verleiten, dass das Individuum zu einem rein technokratischen Vorgang verkommt. Dort nämlich, wo nur harte Fakten zählen, werden soziale Faktoren negiert. Datenmanie killt Empathie. Wer auf Zahlen fixiert ist, denkt nur noch in Zahlenkategorien.

Unsaubere Kennzahlen sind gefährlich wie Irrlichter im Moor

Schon mancher hat sich im Zahlenrausch taumelnd verirrt. So ist vielerorts nicht mal bekannt, auf welcher Basis Algorithmen ihre Entscheidungen treffen und wie sie zu ihren Ergebnissen kommen. Sie sind eine Blackbox, in die man nicht eingreifen kann. Egal! Ungeprüft nimmt man ihren Output für bare Münze. Dabei schaffen Algorithmen oft ein fragwürdiges und meist ein unvollständiges Bild. Unser Online-Verhalten erfassen sie ziemlich bruchstückhaft. Unser Offline-Verhalten erfassen sie gar nicht. Und was sie lernen, stammt von ebenso fehlerhaften Vergangenheitsdaten.

Doch solche Bruchstücke der Wirklichkeit halten Kennzahlenjunkies für die vollständige Wahrheit. Was sich nicht messen lässt, wird schlichtweg negiert, so, als ob es nicht existiert. Zum Beispiel werden Online-Formulare von vielen Usern absichtlich falsch ausgefüllt. Bei Online-Befragungen wird aus Bequemlichkeit meist der oberste Punkt angeklickt. Das so entstandene Falsche fließt in Berechnungen ein, die zu falschen Schlüssen und dann zu falschen Aktionen führen. Oder es wird gezielt manipuliert, indem der Befrager das erwünschte Ergebnis an die oberste Stelle rückt.

Kennzahlenmanie kann zu bizarren Entscheidungen führen

Das betrifft alle Bereiche des Unternehmens. So gelten im Human-Resources-Bereich vielfach die Weiterbildungstage pro Mitarbeiter als Kennzahl für erfolgreiche Personalentwicklung. „Sie haben die vorgeschriebenen Weiterbildungstage noch nicht gemacht. Suchen Sie sich einfach irgendwas raus, damit wir das abhaken können,“ heißt es dann. Das ist doch absurd! Man misst das wieviel, die Quantität. Was damit für das Unternehmen erreicht wird, also die Qualität, wird nicht erhoben.

Zudem lässt man sich gern von getürkten Metriken blenden. Pure Reichweite scheint den zählwütigen Managern oft der wichtigste Faktor zu sein. Auf diese Weise wird man zur leichten Beute all derer, die aus Eigennutz tricksen und manipulieren. Das ist ganz leicht – und auch nicht teuer. Zum Beispiel kosten Likes, Follower und Bewertungen aus der Feder von Bots selbst in hoher Stückzahl nur ein paar Hundert Euro.

Durch eine passende Zahlenauswahl lässt sich jedes Ergebnis optisch verbessern. So wird der Umsatz im Onlinemarketing meist vor Retouren ausgewiesen, obwohl die teils bis zu 40 Prozent betragen. Über eine geeignete Auswahl der Fragen sowie der Befragten und/oder der Befragungszeitpunkte kann man ein favorisiertes Ergebnis vorkonstruieren. Und durch eine geeignete Interpretation der Ergebniszahlen lässt sich fast jedes gewünschte Resultat herausdestillieren. Was nicht passt oder der eigenen Position widerspricht, wird verschwiegen und fällt unter den Tisch.

Kennzahlen geben dem Management die Illusion der Kontrolle

Wo kommt die Fixierung auf Zahlen eigentlich her? Sie gibt Managern die Illusion der Kontrolle. So werden bergeweise Reportings, Kennziffern, Statistiken und Indikatoren erhoben. Doch Zahlen sagen, wie dargelegt, meist nicht die Wahrheit. Denn:

 

  • Erstens ist die finale Ausbeute immer nur so gut, wie das zuvor eingefütterte Ausgangsmaterial. „GIGO“ (Garbage in, Garbage out) wird dieses Prinzip in der Informatik genannt. Eine vollständige Analyse ist gar nicht möglich, weil vieles unerfassbar ist, manches lückenhaft bleibt und anderes einfach nicht stimmt.

 

  • Zweitens können Wunschdenken, falsche Fragestellungen, interessengeleitete Abfragezeitpunkte oder andere Manipulationen zu verfälschten Messergebnissen führen. Und diese unterliegen schließlich noch der Gefahr (beabsichtigter) Fehlinterpretationen im Wirrwarr zwischen Korrelationen und Kausalität.

 

  • Drittens sind Zahlen oftmals das Resultat von (bonifizierten) Abteilungszielen, erzwungenen Lügen, persönlichen Interessen und eigennützigen Motivationen. Eine einzige gezielt eingesetzte manipulierte "vorstandstaugliche" Kennzahl kann über das Schicksal von Unternehmen entscheiden.

 

Fazit: Als Ergebnis aus Unvollständigkeit, Eingabefehlern und Systembetrug ist – bei genauer Betrachtung - nahezu jede ermittelte Kennzahl vielleicht ein bisschen richtig, aber hauptsächlich falsch. Die große Gefahr: Zahlen legitimieren. Selbst dann, wenn sie falsch sind, dienen sie als Entscheidungsgrundlage.

Ausbildung zum zertifizierten Customer Touchpoint Manager

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Anne M. Schüller ist Keynote-Speaker, Bestsellerautorin und Businesscoach. Sie gilt als eine der Top-Experten für Touchpoint Management in Europa.