Viel Gesundheit, Ökologie und Nachhaltigkeit in Las Vegas
Geht man nach der US-Fachpresse, dann hat LG die CES 2023 gewonnen. Und zwar mit einem Produkt, dass sich als Mogelpackung entpuppt. Der neue, drahtlose Großfernseher OLED M3 mit einer Bildschirmdiagonale von 97 Zoll, kann zwar sein Fernsehbild per Funk empfangen, allerdings braucht das putzige Gerät dennoch Strom, und den hat man bei LG einfach im Standfuß versteckt.
Der neue drahtlose Großfernseher von LG @ Frank Puscher
Da hat es der kleine Wettbewerber Displace besser gemacht. Der hat einfach Wechselakkus in den Bildschirm integriert und somit einen wirklich drahtlosen Fernseher geschaffen. Aufgehängt wird er an zwei sehr stabilen Magnetstreifen, so dass man ihn problemlos woanders hinhängen kann. Man könnte ihn sogar – so meint man bei Displace – mit zu Freunden nehmen und dann mehrere Fernseher so kacheln, dass das gemeinsame TV-Erlebnis noch toller wird.
Die Absurdität dieser Idee zeigt, dass TV-Tech an seine Grenzen gekommen ist. Nicht zuletzt restriktivere Umwelt- und Energiestandards sorgen dafür, dass die Gigantomanie aufhört. Dabei gab es bei LG am Stand viel Spannenderes zu sehen. Zum Beispiel unterstützt LG Start-ups aus unterschiedlichen Segmenten. Bird.zzz heißt ein In-Ear-Kopfhörer, der dank eines eingebauten Mikrofons auch Atmung und Blutdruck analysieren kann. Der Kopfhörer spielt dem geneigten Nutzer beruhigende Musik ein, wenn der sich zu sehr aufregt.
Die In-Ear-Kopfhörer von Bird.zzz können Atmung und Blutdruck analysieren @ Frank Puscher
WellTech
Und hier wären wir beim wirklichen Gewinner der CES angelangt. Es ist nicht LG, sondern es ist das gesamte Segment WellTech und HealthTech. Noch nie waren so viele Innovationen zu sehen, die sich mit der physischen und mentalen Gesundheit der Besucher auseinandersetzen.
Lösungen, wie die von Bird.zzz gab es gleich eine Handvoll. Alphabeats aus den Niederlanden macht es ähnlich, nutzt aber zur Messung des Streßlevels ein Stirnband, das elektromagnetische Wellen im Gehirn registriert (EEG). Praktisch die gleiche Lösung kommt auch aus Japan und heißt Vie Zone. Hier gab es auf der CES auch schon eine fertige Software zu begutachten, die die Daten des Nutzers sammelt und anschaulich präsentiert.
Biofeedback, so lautet der Oberbegriff über die Messung aller möglichen Körperdaten. Gehirnströme und Herzschlag sind die wichtigsten, Sauerstoffsättigung im Blut auch, wobei man da vorsichtig geworden ist, seit dem Skandal um Theranos. Aber zum Beispiel das Start-up Nuralogix erhebt Daten nur dadurch, dass man in seine Smartphone-Kamera schaut.
Die Lösung aus diesem Dilemma heißt Relativierung. Es geht nicht um die absoluten Daten, sondern um die relative Entwicklung beim einzelnen Nutzer. Will man Stress erkennen, reicht es ja, eine deutliche Abweichung vom Ruhepuls zu messen, wo auch immer der normalerweise liegt. Trotzdem: Die erweiterte Sensorik erzeugt sehr viele Daten, die der Endkunde nicht interpretieren kann und sollte. Zum Beispiel analysiert das Tool U-Scan von Withings den Urin. Es wird in die Toilette gehängt, wie ein Klostein. Hier gibt es unterschiedliche Scan-Module. Während der Endkunde nur ein paar Daten und Ernährungsempfehlungen bekommt, so heißt die Vollversion ganz bewusst: clinical.
Aber wenn es nur um den Streß geht, scheint sich vor allem eine Technik auf breiter Front durchzusetzen: Das Entspannungsritual per Virtual Reality. Gut ein Dutzend Aussteller boten entsprechende Lösungen an. Manche mit Biofeedback, manche ohne. Der User wird in virtuelle Welten à la Avatar entführt und mit Musik beruhigt.
Wenn es im Gewinner-Bereich MedTech auch noch ein Gewinner-Segment gibt, dann sind das Hörgeräte. Die US Gesundheitsbehörde hat ein Zulassungsverfahren entwickelt, mit dem Hörgeräte auch einfach im Technik-Handel oder bei Amazon gekauft werden und dennoch mit den Krankenkassen abgerechnet werden können, sofern man gut versichert ist. Ein typisch amerikanischer Ansatz: Hunderte von Herstellern von In-Ear-Kopfhörern definieren ihre leistungsfähigsten Geräte nun als Hearing-Aid. Und in vielen Fällen, zum Beispiel bei großen Herstellern wie Bose oder JBL, auch nicht zu Unrecht.
Die schönsten „Hörgeräte“ kommen aber aus München. Sie heißen Nova Earrings, sehen aus wie klassische Ohrringe, nur dass sich die Akustik in der Perle versteckt. Die edlen Gadgets werden nur in Gold und Silber gefertigt, kosten ab 600 Euro und waren der CTA ein Lob als Top-Innovation wert.
Marketing-Tools
Ein zweiter Top-Act in Las Vegas war das Metaverse. Wobei jeder Aussteller sein eigenes Metaverse dabei hatte. Und es waren Hunderte. Seite an Seite duellierten sich zum Beispiel Canon mit Kokomo und Lotta Data Solutions aus Korea mit der virtuellen Welt Caliverse. Während Canon die User direkt in die Registrierung schickte, wählten die Koreaner einen anderen Weg: Sie installierten eine kleine Arena mit 20 Metern Durchmesser, wo auf Sitzbänken 100 VR-Headsets zum Ausprobieren lagen. Beide bestechen vor allem dadurch, dass die Darstellung der Avatare fast fotorealistisch ist.
Aber das ganze Thema befindet sich noch in einem sehr frühen Versuchsstadium. Ernst gemeinte Metaverse-Anwendungen werden vor allem für interne oder Presseveranstaltungen realisiert. Die Reichweite auf Seiten der Endkunden hält sich oft noch in Grenzen. Gary Shapiro, der Chef der CTA, die die CES organisiert, meinte in einem Vorgespräch, man werde allerdings viele Techniken sehen, die den Weg dahin bahnen.
Und das stimmt. Zum Beispiel versuchen sich einige Anbieter in neuen Varianten der Videokonferenz. Herausragend ist die Lösung von Copresence aus der Schweiz. Hier kann jeder Teilnehmer statt seiner selbst einen Avatar ins digitale Meeting schicken. Das könnte man zum Beispiel machen, wenn Umgebungslicht oder die Geräuschkulisse nicht gut zu einer Videokonferenz passen würden.
Copresence schickt Avatare in Meetings @ Frank Puscher
Der Avatar übernimmt die Mimik des echten Sprechers. Der Clou an diesem System ist aber, dass es sich eben nicht mehr um eine Videokonferenz handelt. Tatsächlich werden nur der Ton und die Mimik-Daten übers Internet übertragen. Der Avatar muss nur einmal in die Software der jeweiligen Teilnehmer eingespielt werden. Dadurch spart das System enorm viel Bandbreite, Strom und damit CO2. Zur Erinnerung: Ein durchschnittlicher Zoom-Call erzeugt das Vierfache an Daten im Vergleich zum Streamen eines Netflix-Films.
Ein weiteres Highlight in Sachen Präsentationstechnik ist das Kamerasystem Amlos von Canon, das zurecht den Innovations-Award der CTA gewann. Es kann mit nur einer Kamera drei unterschiedliche Bilder aufnehmen und diese Bilder sind durch Sprache oder Gesten steuerbar. Will sagen: Der Speaker befiehlt der Kamera, sie möge auf ein Detail auf dem Flipchart zoomen. Die Kamera tut das, aber der Speaker bleibt nach wie vor im Bild. Und natürlich korrigiert die Kamera eine perspektivische Verzerrung, wenn das Flipchart an der Seite steht.
Generative AI
Aus Sicht des Marketings gibt es allerdings noch einen viel größeren Trend, der sich deshalb nicht so sehr in den Vordergrund gedrängt hat, weil er in zwei verschiedenen Gestalten daherkommt und weil er in vielen Anwendungen einfach drin ist, ohne explizit so genannt zu werden: generative AI, die kreative Künstliche Intelligenz.
Das beginnt bei der Analyse von Content. Largo.ai aus der Schweiz analysiert automatisch die emotionalen Momente in Videos. Das können Spielfilme sein aber auch Werbespots. Dabei werden alle möglichen Signale berücksichtig: der Text, die Sprache, die Mimik der Schauspieler, die Beleuchtung der Szene, die Hintergrundmusik.
Richtig spannend wäre, wenn man dieses System in Kombination mit Upmood aus Hongkong einsetzt. Upmood ist ein Emotion-Tracker und wird von Menschen als Armband getragen. Typischerweise würde der Marketer das bei einem Pretest mit der Fokusgruppe machen, bevor er den neuen Werbespot auf die Menschheit loslässt.
Künstliche Intelligenz kommt aber auch bei der Erzeugung von Inhalten zum Tragen. Die kleine Version ist, wenn die KI vollautomatisch in der Lage ist, solche Szenen in Sportvideos zu finden, zu markieren und mit grafischen Effekten zu versehen, bei denen zum Beispiel der Werfer im Basketballspiel trifft.
Die größere Idee ist das originäre Erzeugen von Inhalten. Hier stehen im Hintergrund Systeme wie Dall-E, Midjourney oder Stable Diffusion bereit, die aus Textbeschreibungen Bilder oder sogar Videos erzeugen. Die Videos mögen bislang noch selten Sendequalität haben, aber sie eignen sich zum Beispiel als Prototypen oder für Briefings.
Dass Generative AI das Marketing auf Dauer massiv verändern wird, steht fest. Der Hype um ChatGPT, auf dessen Grundlage einige Aussteller spezialisierte Chat-Bots demonstrierten, hat gezeigt, wie groß der Bedarf an automatisch erzeugten Inhalten sein kann. Mit Talkr.ai lässt sich ChatGPT sogar ans Telefon anschließen und beantwortet Kundenfragen.
Zum Thema Generative AI gab es einen kompletten Nachmittagsstrang im Konferenzprogramm. Eröffnet wurde dieser mit der Diskussion: AI goes Hollywood. Nina Schick, Autorin des Buchs Generative AI sagte zum Abschluss: „Die Künstliche Intelligenz kann alles in jeder gewünschten Qualität liefern“.
Fazit
Natürlich sollte man an dieser Stelle noch über autonom fahrende Traktoren, elektrische Boote oder smarte Straßenlaternen sprechen, denn der Mobilitätssektor insgesamt hat nach wie vor große Bedeutung in Las Vegas. Etwas enttäuschend war die Keynote von BMW, die sich nur mit dem Thema beschäftigte, ob das intelligente Auto zum Freund des Fahrers werden sollte. Im Vergleich zu den inhaltlichen Zielvorgaben der CES mit Nachhaltigkeit, Sicherheit und Gesundheit würde man wohl sagen: Thema verfehlt. Dafür fanden sich im Convention Center ziemlich spannende Newcomer, wie das Solar-Auto Lightyear aus Holland oder das Sharing-Auto Circle aus Frankreich.
Unterm Strich muss man sagen, dass die CES in voller Größe, also mit über 3000 Ausstellern und über 100.000 Besuchern (Angaben der CTA) ganz klar der Fixstern am Tech-Himmel bleibt. Es finden sich auch immer mehr Marketing-Anbieter auf dem Showfloor: Amazon Ads, Samsung Ads, DoubleVerify, Stagwell. Alle waren da. Die CES ist auch angesichts des gewählten Themenspektrums eine echte Image-Maschine. Wer gesehen werden will oder Employer Branding machen möchte, ist hier richtig.
Aber besonders spannend ist das Event vor allem für „Querdenker“. Viele der Lösungen sind zwar für andere Einsatzbereiche konzipiert, eignen sich aber perfekt für die Übertragung ins Marketing. Man muss sie in diesem Gewusel allerdings erst finden.